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Als am 9. November 1989, wenige Minuten vor 19 Uhr, das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski vor live geschalteten Fernsehkameras einen Zettel hervorkramte und ihn zerstreut vorlas, offensichtlich ohne sich über seinen Inhalt im klaren zu sein, löste er damit nicht nur das Ende der DDR, sondern auch ein Jahrzehnt beispielloser Bauaktivitäten in Berlin aus. Einen Boom, den manche gar als "neue Gründerzeit" empfanden.
Maueröffnung 1989, politische Wiedervereinigung 1990 und der Bundestagsbeschluß zum Hauptstadtumzug 1991 waren die Wegmarken, die die Voraussetzungen für dieses Baugeschehen schufen. Unterstützt, wenn nicht gar in Teilen initiiert, wurde es durch eine Subventionspolitik, die bis in die späten 90er Jahre hinein durch direkte Förderungen und indirekte Steuer-Erleichterungen ("Sonder-Abschreibung Ost") die erforderlichen Finanzmittel nicht zuletzt in den Wohnungsbau leiteten.
Berlin im Metropolenrausch: Führende Vertreter des Senats rechneten im Jahre 1991 mit einem neuzuschaffenden Bedarf von sechs Millionen Quadratmetern Bruttogeschoßfläche Büroraum und mit 400.000 bis 800.000 zu errichtenden Wohnungen - Orakel, die sich schon wenige Jahre später als utopisch erweisen sollten.
Im Windschatten der damit losgetretenen Baulawine erlebte Berlin seit Beginn der neunziger Jahre eine glücklicherweise auf hohem Niveau ausgetragene, allerdings auch sehr kontroverse öffentliche Debatte um die besten städtebaulichen und architektonischen Lösungen für die auf die Stadt zukommenden Bauaufgaben. Selten zuvor, auch nicht zu Zeiten der Internationalen Bauausstellung 1984-87 (IBA), waren diese Themen so publikumsrelevant; selten zuvor gab es überdies in der Fachöffentlichkeit einen so engagierten Streit wie den, der sich am offiziösen Leitbild der "kritischen Rekonstruktion" von Senatsbaudirektor Hans Stimmann entzündete und der bis hin zu dem Verdacht reichte, bestimmte, von Architekten-"Kartellen" durchgesetzte gestalterische Auffassungen führten flugs zur Wiederaufnahme totalitären Machtausdrucks in der Architektur.
Für das gemeine Volk wurden unterdessen die Besichtigung schlammiger Baugruben im Rahmen der turnusmäßigen Veranstaltungsreihe "Schaustelle" organisiert und diese damit erfolgreich zu einem Instrument des Stadtmarketing gemacht. Mit mittlerweile über fünf Millionen Besuchern ist ein - wenn auch architektonisch raffiniert gestalteter - simpler Blechcontainer zu einer der besucherstärksten Touristenattraktionen der gesamten Metropole avanciert: Die "Infobox" auf dem Leipziger Platz hat keine andere Aufgabe, als über Hochbauplanungen zu informieren - mit modernen Simulations-Medien genauso wie mit der eigenen Anschauung: Die Besucherplattform auf dem Dach der Box mit Blick auf das Baugeschehen am Potsdamer Platz war zu jedem Zeitpunkt das Zweimarkstück wert, das man am Eingang in die Zahlbox werfen mußte.
Der Fokus des öffentlichen Interesses richtete sich naturgemäß
in erster Linie auf repräsentative Bauprojekte im Innenstadtbereich: auf die
Investoren-City am Potsdamer Platz, auf die Neu- und Umbauten für Bundestag
und -regierung im Spreebogen und in der Dorotheenstadt, auf die neuen Nobelmeilen
links und rechts der Friedrichstraße, auf die Frage nach der Zukunft des Schloßplatzes
und - schon deutlich abgeschwächt - auf umstrittene Großprojekte in der
City West. In all diesen Gebieten fand und findet Wohnungsbau bislang allenfalls
als Marginalie statt.
Trotz vieler Baulücken im Berliner Stadtbild glaubte man, den Anfang der 90er
Jahre prognostizierten Bedarf an neuen Wohnungen nicht allein "im Bestand"
der Kernstadt zeitgerecht realisieren zu können. So entstanden innerhalb kurzer
Zeit eine Fülle von Planungen für größere, zusammenhängende
Neubaumaßnahmen, die in der Regel an der Peripherie, in den meisten Fällen
überdies in den östlichen Stadtbezirken gelegen sind. Doch schon Mitte
der neunziger Jahre wurde die vereinzelt immer schon geäußerte grundsätzliche
Kritik an Lage, Größe und städtebaulicher Konzeption der "neuen
Vorstädte" immer breiter. In der Folge - und auch vor dem Hintergrund der
kapitalen Krise der öffentlichen Haushalte und dem damit verbundenen, fast vollständigen
Wegfall der Mittel für den Sozialen Wohnungsbau - wurden die meisten Vorhaben
deutlich abgespeckt oder zeitlich gestreckt.
So konzentriert man sich Ende der neunziger Jahre bei Neuplanungen einerseits auf die Nachverdichtung von als untergenutzt empfundenen Innenstadtgebieten - vor allem solchen mit aufgelockerten Bebauungen aus den Nachkriegsjahrzehnten - und andererseits auf die Frage, wie der Traum vom Einfamilienhaus ohne flächenfressende Abwanderung ins Umland innerhalb der Stadtgrenzen realisiert werden kann.
Überlegungen zur Nachverdichtung werden vor allem im Rahmen der Arbeit am sogenannten "Planwerk Innenstadt" angestellt, das Hans Stimmann, der seit Anfang 1996 Staatssekretär der Stadtentwicklungsverwaltung ist, Ende 1996 veröffentlichen ließ. Im "Planwerk" wird innerstädtischer Wohnraum für eine gutverdienende, städtisch geprägte Bevölkerungsschicht geplant, die man als "die neuen Urbaniten" bezeichnet.
Den Bedürfnissen vieler Familien nach dem Glück im Grünen dagegen trägt man, vor allem seit der Übergabe des Bauressorts an die CDU in der Folge der Abgeordnetenhauswahl Ende 1995, durch Programme Rechnung, die sowohl passendes Bauland aktivieren als auch Hilfestellung bei der architektonischen Gestaltung geben. Dazu gehören Initiativen wie der Wettbewerb "Das städtische Haus" (1997) oder die "Bauausstellung Berlin 1999".
Somit sind die zu Beginn der neunziger Jahre auf den Weg gebrachten größeren Siedlungen, Vorstädte und Stadterweiterungsgebiete zu einem guten Teil bereits zum Zeitpunkt ihrer Fertigstellung als Kinder einer vergangenen Zeit zu bezeichnen, weil man wenig später die Voraussetzungen korrigieren mußte, unter denen sie einst geplant worden sind. Dennoch sollen und müssen sie hier im Zentrum der Betrachtung stehen.
Nach der Wiedervereinigung kamen mit den beiden Stadthälften Berlins zwei Teil-Kommunen
zusammen, deren Leitbilder für den Wohnungsbau nicht unterschiedlicher hätten
sein können.
In West-Berlin hatte man seit Ende der siebziger Jahre Abstand von Flächenabriß und Großsiedlungsbau genommen. Die Gropiusstadt und das Märkische Viertel galten schnell als Symbolobjekte für unverzeihliche städtebauliche Fehler. In den achtziger Jahren wurde "behutsame Stadterneuerung" und Nachverdichtung im Bestand durch Baulückenschließung, Eckbebauung und Dachaufstockung geübt.
Dagegen war in der DDR und damit natürlich auch in Ost-Berlin seit dem VIII. Parteitag der SED im Jahre 1971 die "Lösung der Wohnungsfrage bis 1990" zum zentralen innenpolitischen Thema erklärt worden. Die daraufhin erreichten hohen Quantitäten im Wohnungsneubau wurden nahezu ausschließlich durch den Bau von Großsiedlungen in Typenbauweise abgedeckt. In Berlin betraf dies vor allem Gebiete an der nord- und südostlichen Peripherie, es entstanden unter anderem die Großsiedlungen in Marzahn, Hohenschönhausen und Hellersdorf.
Da mit dem Ende der DDR die ehrgeizigen Neubaupläne noch nicht vollständig umgesetzt worden waren, standen nach der Wiedervereinigung einige größere, zusammenhängende Flächen an der äußersten Peripherie, die schon für den Wohnungsbau vorbereitet worden waren, sofort zur Verfügung: Buch IV und V, Altglienicke, Karow-Nord und andere. Wegen der vermeintlich gebotenen Eile griff man notgedrungen vor allem auf diese Standorte zurück. Der für 1994 erwartete erste Gesamt-Berliner Flächennutzungsplan konnte nicht abgewartet werden; so fällte man "plausibel begründete Ad-hoc-Entscheidungen". Als Ergebnis wurden im April 1992 27 verschiedene Flächen per Senatsbeschluß für den Bau von insgesamt 50.000 bis 70.000 Wohnungen, davon 25.000 kurzfristig, bestimmt. Der Senat hatte in seinem "Gesamtberliner Wohnungsbauprogramm" beschlossen, in der ersten Legislaturperiode bis 1995 80.000 bis 100.000 öffentlich geförderte Wohnungen "auf den Weg zu bringen", das heißt, in der Lage zu sein, für konkrete, genehmigungsfähige Planungen Fördermittelanträge einreichen zu können. Dieses Ziel wurde bis 1995 für 71.000 Wohnungen tatsächlich auch erreicht.
Wie sollten nun die beschlossenen Stückzahlen - immerhin in einer jährlichen
Größenordnung, wie sie zuletzt 1968 beim Bau der Großsiedlungen
erreicht worden war - architektonisch und städtebaulich bewältigt werden?
"Das Leitbild für das Neubauprogramm war zunächst diffus. Man wußte,
was man nicht wollte: nicht Marzahn, Hellersdorf, Hohenschönhausen, nicht Gropiusstadt
oder Märkisches Viertel." Man lehnte die Großsiedlungen der sechziger
und siebziger Jahre genauso ab wie den monofunktionalen Zeilen-Siedlungsbau der zwanziger
oder fünfziger Jahre.
Als Pilotprojekt
für die Umsetzung einer zeitgemäßen "Neuen Vorstadt", wie
der konsensfähige neue Begriff dann schließlich lautete, gilt ein Vorhaben,
das schon 1989, also vor dem Mauerfall, in die Wege geleitet worden ist: die "Wasserstadt
Oberhavel", später zu "Wasserstadt Spandauer See" umgetauft,
rund um die Insel Eiswerder an der Oberhavel in Berlin-Spandau gelegen. Diese größte
"Neue Vorstadt" ist zudem eines der wenigen größeren Projekte
auf West-Berliner Gebiet. Hier wurden erstmals die Leitlinien entwickelt, die in
den neunziger Jahren für die "Neuen Vorstädte" obligatorisch
werden sollten. Aufgestellt wurden sie nicht von Planern, nicht von Politikern, sondern
von - Architekten.
Hans Kollhoff, Christoph Langhof, Jürgen Nottmeyer und Klaus Zillich entwickelten in ihrer "Vorstudie" von 1989 für das untergenutzte, am Wasser gelegene Gelände ein starkes Bild der künftigen Vorstadt, das zunächst Stadträume, Plätze, Wege, Parkanlagen und Gebäudefigurationen festlegte. Damit wurde der Planungsprozeß ohne den sonst üblichen Vorlauf der Stadtentwicklungsplanung, die zuerst Verkehrswege und Nutzungsverteilungen festlegt, "vom Kopf auf die Füße" gestellt, wie Hans Stimmann sagt - ein Primat des künstlerisch-entwurflichen Städtebaus gegenüber der abstrakten "Planung" also. Dieses Vorgehen war ganz im Sinne der etablierten West-Berliner Architektenschaft, konnte sie doch hier ihre Vorstellungen von einer "urbanen" Vorstadt exemplarisch vorführen. Zu den Leitlinien dafür zählten: relativ hohe Dichte weit über den Werten der Baunutzungsverordnung oder des Flächennutzungsplans, Rückbesinnung auf den traditionellen, "vormodernen" Hausbau mit der Ausbildung von Blöcken und Höfen, Beschränkung der Gebäudehöhen auf vier bis sieben Geschosse sowie die obligatorische Durchmischung von Wohnen, Dienstleistung und Gewerbe.
Seit 1994 sind die ersten Abschnitte der Wasserstadt in Bau. Die bereits fertiggestellten Wohngebäude in den Quartieren Pulvermühle und Maselake / Havelspitze führen in ihrer architektonischen Ausformulierung hauptsächlich die Auffassungen der "steinernen" Fraktion unter den Berliner Baukünstlern vor.
Zu den gediegensten Bauten
dieser Art gehören im Quartier Pulvermühle die zur Havel ausgerichteten
sechsgeschossigen Wohnblöcke von Bernd Albers. Sie sind von einer monumentalen
Noblesse und kommen mit nahezu einem einzigen Fensterformat aus. Die reliefartig
"gewebte" Ziegelfassade wird allein durch die monotaktisch gereihten Fensteröffnungen
gegliedert. Ob mit dieser arg reduzierten und demonstrativ "städtischen"
Architektur allerdings die betuchte Kundschaft für die (in diesem Falle freifinanzierten)
Wohnungen interessiert werden kann, bleibt abzuwarten.
Kaum aussuchen konnten
sich dagegen die Bewohner der benachbarten "Würfelhäuser" ihr
Zuhause, handelt es sich doch um Sozialwohnungen, für die ein Berechtigungsschein
nachgewiesen werden muß. Die Würfelhäuser sind nach einer städtebaulichen
Vorgabe des Architekturbüros Nalbach ausformuliert worden und basieren im Grundriß
jeweils auf einem 16 x 16 Meter messenden Quadrat. Das Gebiet mit den Würfelhäusern
ist deswegen von Interesse, weil die Baukörper dieser Geschoßwohnungsbauten
entgegen der Doktrin vom "städtischen Block" locker gruppiert angeordnet
sind, und somit keine Eindeutigkeit von öffentlicher (Straßen-) und privater
(Hof-) Seite gegeben ist. Hier besteht am ehesten Ähnlichkeit zum eigentlich
ja verworfenen "Siedlungs"-Modell - ohne daß dies der Qualität
der Anlage und ihrer Freiflächen Abbruch getan hätte.
Dagegen ist der Versuch
der Architekten Kees Christianse und Otto Steidle, bei ihren Wohnbauten im Quartier
Maselake ein Statement gegen die Berliner Steinfassade zu formulieren, nicht gelungen.
Christianse simuliert bei seinem Block durch die Farb- und Materialwahl eine Aneinanderreihung
von Einzelhäusern, während Steidles Riegel durch eine aufgeregte Fassade
mit unnötig vielen verschiedenen Fensterformaten Unruhe und Beliebigkeit ausstrahlt.
Der Kritiker Martin Kieren beschreibt das ausreichend deutlich: "[Hier sind]
die Fenster nurmehr nach sportiven Gesichtspunkten angeordnet: im visuell lästigen
Versatz groß und klein, hoch und quer. Der Straßenraum wird vollständig
ignoriert, Regeln und Rhythmen sind nicht erkennbar, die Fassade verkommt zu einer
Spielwiese von unbeherrschter Kompositionsmechanik, die der Hilflosigkeit entspringt
und in Ratlosigkeit endet."
Im übrigen steht
die Bebauung der Maselake-Halbinsel exemplarisch für einen unübersehbaren
konzeptionellen Widerspruch großer Teile der Wasserstadt: Auf dem vormals verschlafenen
Industrie-Terrain - eine zweigeschossige Poelzig-Halle aus den zwanziger Jahren wird
inmitten der Neubauten erhalten - wird demonstrativ das Bild einer dichten Stadt
erzeugt: Die Wohnblöcke haben bis zu acht Geschosse. Doch für solch ein
Bild, das innerhalb der Kernstadt des Hobrecht-Plans seine Berechtigung hätte,
fehlt hier standortseitig jede Voraussetzung: Wer sich für das Wohnen im Grünen
interessiert und daher die massiven Nachteile der Lage in Kauf nimmt - die öffentliche
Nahverkehrsanbindung ist miserabel -, der wird kaum ein so extrem verdichtetes, urbanes
Wohnen gesucht haben.
Nicht nur, aber auch aus dieser Erkenntnis heraus ist das Projekt gegenüber
den ersten Masterplänen mittlerweile deutlich abgespeckt worden. Mit dem Fortfall
nicht nur von ganzen Quartieren, sondern auch von Infrastruktur-Einrichtungen wie
Schulen droht allerdings die Gefahr, daß hier nicht eine Vor-"Stadt",
sondern "bloß" eine Siedlung entsteht.
Am anderen Ende des Stadtgebiets,
im äußersten Nordosten, entsteht mit Neu-Karow (das zuvor im Planer-Jargon
lange als "Karow-Nord" geläufig war) eine weitere Neue Vorstadt, für
die im Grunde ähnliche Vorgaben galten, die sich jedoch im gebauten Ergebnis
vollständig anders darstellt: Neu-Karow wirkt traditionell, gemütlich,
gefällig und, trotz formaler Vielfalt, langweilig.
Neu-Karow lohnt eine nähere Betrachtung jedoch deswegen, weil gerade dieses Gebiet Anfang der neunziger Jahre zu den am meisten diskutierten Stadterweiterungsgebieten gehörte und vom Bausenat mit großer Vordringlichkeit vorangetrieben worden ist. In stundenlangen öffentlichen Architekturgesprächen im Berlin-Pavillon wurde unter der Ägide von Senatsbaudirektor Hans Stimmann noch um die Gestaltung und die urbane Einbindung der letzten Kindertagesstätte gerungen. Karow-Nord war ein, wenn nicht das städtebauliche Vorzeigeprojekt des Wohnungsbauprogramms des Senats.
Vor dem Hintergrund solcher
Anstrengungen ist es eine unangenehme Überraschung, daß aus dem Kreißen
des Berges lediglich eine Maus hervorgegangen ist - wenn auch bislang termingerecht.
Obwohl viele renommierte Architekten an Neu-Karow beteiligt waren, gibt es kaum mehr
als eine Handvoll Gebäude, die im architekturkritischen Sinne der Erwähnung
wert wären. Die meisten davon sind Schulen oder Kitas, jedoch keine Wohnbauten.
Der Grund für diese Enttäuschung dürfte in den rigiden Gestaltungsvorschriften
zu suchen sein, die, ausgehend vom städtebaulichen Masterplan der Amerikaner
Moore, Ruble und Yudell, ein postmodern-verspieltes Bild eines traditionellen Städtchens
festlegten.
Vier für alle Architekten verbindliche Haustypen sind entwickelt und miteinander kombiniert worden: "Blockrandbebauung", "Karow-Hof", "Agrarhäuser" und "Stadtvillen". Um bei der Vielzahl der Beteiligten die gewünschte gestalterische Einheitlichkeit zu erzielen, wurde überdies ein sogenannter Gestaltkatalog festgesetzt. Darin wurden Präzisierungen zu Vorgärten, Einfriedungen, Fassaden, Eingängen und Materialien gemacht. Geneigte Sattel- oder Walmdächer waren obligatorisch; leider aber offenbar auch so unschöne Details wie Thermohaut, außenliegende Rolladenkästen aus Kunststoff und die hemmungslose Verwendung von Dachflächenfenstern.
Bei einem Rundgang durch die Anlage, die trotz der Rhetorik von der Vor-Stadt
in weiten Teilen eine reine Wohn-Siedlung ist, fällt es nicht schwer,
architektonische Lieblosigkeiten an und in den Gebäuden auszumachen; dies gilt
besonders für das zentrale "Dorfzentrum" mit seinen Läden an
der Bucher Chaussee.
Das Mittelmaß geringfügig
überragen hingegen die Stadtvillen der Architekten Höhne und Rapp, die
sich der Verpflichtung zum geneigten Dach listig durch ein kielbogenförmiges
Tonnendach entledigten: Mit den dadurch möglichen, extrem hohen dreigeschossigen
Dachgauben, die überdies sehr eng zueinander angeordnet sind, entstand optisch
so etwas wie ein zweites, rechteckiges Volumen, dem es gelingt, die Vorgaben zu konterkarieren.
Auch die das Gelände zur unbebauten Wiese hin abgrenzenden Blöcke von ENSS fallen hier aus dem Rahmen, weil sie in ihrer monotonen Fassadenrhetorik und ihren reduzierten Blechdächern eher der "steinernen" Architekturauffassung zuzuordnen sind, die zum Beispiel die Wasserstadt Spandau prägt.
Trotz aller fachlichen Kritik scheint Neu-Karow von der Bevölkerung angenommen
zu werden. Mit einer Geschoßflächenzahl von 1,0 ist das Gebiet einerseits
ausreichend dicht, andererseits aber nicht drückend urban. Nur fehlt aber auch
hier bisher eine sinnvolle Anbindung an den Schnellbahnverkehr, obwohl eine S- und
Regionalbahnstrecke das Gebiet tangiert.
In einer ähnlichen Größenordnung wie Neu-Karow bewegt sich das Neubauprogramm
für den Treptower Ortsteil Altglienicke, der im Südosten des Stadtgebiets
in der Nähe des Flughafens Berlin-Schönefeld gelegen ist.
Neben vielen anderen Neubau- und Nachverdichtungsmaßnahmen in Altglienicke sticht vor allem die Planung für das "Wohngebiet 1" hervor, wo auf einer annähernd quadratischen, bislang unbebauten Freifläche nördlich des S-Bahnhofs Grünbergallee etwa 2.500 Wohnungen entstehen. Dieses Baufeld wird diagonal durch die Fernbahntrasse auf der Strecke zwischen Kreuz Grünau und Schönefeld durchschnitten.
Hier soll vor allem
das südlich der Bahnlinie gelegene, zentrale "Wohngebiet 1.1" interessieren,
das aus viereinhalbgeschossigen, konzentrisch gebogenen Zeilenbauten mit Pultdächern
besteht, von denen jeweils zwei durch einen Kopfbau zu einer langgestreckten Hofanlage
zusammengebunden sind. Besonders bemerkenswert ist hier die fein differenzierte Behandlung
von öffentlichen und halbprivaten Räumen sowie die ausgeklügelten
Wegebeziehungen, die diese Siedlung im besonderen Maße bewohnergerecht und
"alltagstauglich" machen.
Drei Straßen folgen
den gekrümmten Zeilen. Dies sind, von der im Kreismittelpunkt gelegenen Kita
aus gesehen, Nippeser Straße, Rodenkirchener Straße und Coloniaallee.
Die beiden erstgenannten sind reine Erschließungsstraßen für die
Zeilenbauten, während die breitere, repräsentative Coloniaallee, die zum
S-Bahnhof verlängert werden soll, als Hauptachse der Anlage Ladennutzungen im
Erdgeschoß aufweist. An einer zentralen Stelle, die durch ein Turmhaus der
Architekten Dörken und Heise markiert ist, weitet sie sich sogar zu einem neuen
Stadtplatz auf. Hier finden sich Geschäfte und Dienstleistungen, Gastronomie
und einige Büros.
Zusätzlich werden noch Fußgängerwege in Form
von Hofdurchgängen angeboten, die von der imaginären Kreismitte ausgehend,
radial geführt sind und die damit die Erschließungsstraßen sowie
die dazu parallelen hofinternen Innenwege kreuzen. Somit wird ein vielfältiges
Netz von Fußgängerwegen und "Abkürzungen" angeboten.
Wer an einem Sonnabend mittag die Fußgangerströme
beobachtet, wer den Bewohnern auf ihren Wegen von und zu ihren alltäglichen
Besorgungen zusieht, bekommt plausibel vorgeführt, daß diese neue Vorstadt
im besten Sinne des Leitbilds der "europäischen Stadt" funktioniert.
Es gibt eine eindeutige Zentrumsbildung mit Infrastruktur, es gibt einen Anschluß
an das Nahverkehrssystem, es gibt Straßen, Wege, Plätze und Grünzonen
mit Aufenthaltsqualität, die nicht nur aus verbalen Absichtserklärungen
von Planern bestehen, sondern unmittelbar aus der Architektur und der Freiraumgestaltung
heraus erlebt, verstanden und genutzt werden können. Dieses kleine Stück
Stadt scheint nicht nur strukturell den meisten 20er-Jahre-Siedlungen überlegen,
sondern vermeidet auch die Nachteile der ansonsten wieder geschätzten gründerzeitlichen
Mietskasernenstadt mit ihren dunklen, unüberwindlichen Hinterhöfen. >
Erstveröffentlichung im Ausstellungskatalog "Wohnen in Berlin".
Der Text hier folgt meinem Manuskript.
Copyright 1998 by Benedikt Hotze