Vom Bauhaus zur Pflegeversicherung
Das Aschrott-Heim in Kassel zwischen Denkmalpflege und Nutzungsanforderungen
Von Benedikt Hotze
Die historischen Schwarz-Weiß-Fotos zeigen einen Klassiker der Moderne im lupenreinen
Zustand: Otto Haeslers Altenwohnheim der "Marie-von-Boschan-Aschrott-Stiftung",
kurz "Aschrott-Heim" genannt, erscheint mit seinen beiden nach Süden
vollverglasten Wohnflügeln und dem quer durchgesteckten, niedrigeren Eingangs-
und Wirtschaftsflügel sowie dem hinten angebauten Heizhaus wie eine ideale Inkarnation
der avantgardistischen Architektur der Neuen Sachlichkeit. Leichtigkeit und Eleganz,
Minimierung des Materialeinsatzes bei optimaler Ausrichtung nach der Sonne: Das sind
die gestalterischen Kennzeichen eines Baus, der nicht zuletzt mittels der kongenialen
Fotos von Arthur Köster einen prominenten Platz in der internationalen Architekturgeschichtsschreibung
gefunden hat.
Umso enttäuschter ist der Besucher heute bei der ersten Annäherung. Das
1977 unter Denkmalschutz gestellte Gebäude am Ende der Friedrich-Ebert-Straße,
inzwischen weitgehend verborgen hinter hohen Tannen, dient zwar noch dem selben Nutzer
und dem selben Zweck wie zur Fertigstellung 1931, hat aber inzwischen einen guten
Teil seiner originalen architektonischen Details - und damit seine Atmosphäre
- eingebüßt.
Der vordere, südliche Wohnriegel, "Flügel A" genannt, hat sämtliche
ursprünglichen Holz-Fensterprofile und die typische partielle Doppelschaligkeit
des Fensteraufbaus verloren - zugunsten von kunststoffbeschichteten Aluminiumprofilen
mit Wärmeschutzverglasung. Immerhin ist das Teilungsschema der raumhohen Fenster
dem historischen Vorbild annähernd nachempfunden. Viele Putzflächen des
Komplexes, vor allem an den Giebelseiten, aber auch am Wirtschaftsflügel und
am Heizhaus, sind mit unschönen kleinteiligen Fliesen verkleidet; der Eingangspavillon
trägt gar beigefarbene Klinkerriemchen. Der Wirtschaftsflügel hat seine
großzügige Verglasung zum Garten zugunsten kleiner Lochfenster verloren;
ähnlich erging es den Giebelseiten der beiden Wohnflügel, die ursprünglich
zudem auf Pilotis standen.
Doch die einschneidendste Veränderung offenbart sich auf der Hofseite des Wohnflügels
A: Dieser wurde kürzlich durch einen mächtigen Baukörper regelrecht
aufgedoppelt. Dabei wurde die Nordfassade mit Bandfenstern und einem vollverglasten
Treppenhaus geopfert. Aus der ursprünglich einbündigen Anlage mit Flur
im Norden und Wohnungen im Süden ist ein Zweibund mit Mittelflur und Funktionsräumen
im Norden geworden. Der neue Baukörper artikuliert sich mit Fensteröffnungen,
die abweichend vom Bestand mit einem Quadratmotiv spielen und mit breiten, blauen
Fensterprofilen ausgeführt wurden. Die baukörperliche Proportionierung
der Gesamtanlage ist nunmehr massiv gestört.
Dieser soeben bezogene Anbau ist den anspruchsvollen Anforderungen an ein zeitgemäßes
Altenpflegeheim geschuldet und wurde mit Zustimmung der Denkmalschutzbehörde
errichtet.
So ernüchternd also der heutige Zustand für Denkmalpuristen auch sein mag,
so plausibel erklären sich viele der Veränderungen im Rückblick auf
die Nutzungsgeschichte.
Das Aschrott-Heim, 1929-31 von Otto Haesler und Karl Völker nach einem Wettbewerbsgewinn
errichtet, war ein Experimentalbau in Stahlskelettbauweise, der wohl aus Geld- und
Materialmangel zu Zeiten der Wirtschaftskrise mit konstruktiven und bauphysikalischen
Kompromissen ausgeführt wurde. Wie viele andere Initialbauten dieser Epoche
auch, reagierte er besonders verletzlich gegenüber Maßnahmen, die normalem
Verschleiß, Kriegseinwirkungen, gestalterischem Unverstand sowie der Notwendigkeit,
auf Bauschäden reagieren zu müssen, geschuldet waren.
Schon etwa 1935 wurden an den verglasten Südfassaden der Wohnflügel Stoff-Markisen
angebracht, die nicht von Haesler stammen, sich aber durchaus angenehm ins Fassadenbild
fügen. Der Architekt hatte die Notwendigkeit eines Sonnenschutzes offenkundig
unterschätzt; sein Konzept des Mikroklima regulierenden, zweischaligen "Blumenfensters"
war zumindest in dieser Hinsicht nicht aufgegangen.
Ab 1945 nutzte die amerikanische Besatzungsmacht das Heim als Hotel. Dafür wurde
der kriegsbeschädigte Wirtschaftsflügel unter Verlust der inneren und äußeren
Verglasungen vereinfacht wieder aufgebaut.
Im Jahre 1958 erhielt die Aschrott-Stiftung das Haus zurück und betrieb es ab
Neujahr 1959 wieder als Altenwohnheim für alleinstehende Frauen. Die Stiftung
wurde damals wie heute durch ihren Geschäftsführer Richard Walper vertreten.
Walper, bald achtzig Jahre alt und immer noch im Tagesgeschäft aktiv, gilt als
die gute Seele des Hauses und wird von Bewohnerinnen und Mitarbeitern geachtet, ja
verehrt. Die architektonische Bedeutung des Baus ist ihm grundsätzlich bewußt;
im Zweifel haben für ihn jedoch wirtschaftliche Belange den Vorrang gegenüber
dem Erhalt von denkmalwerten Details.
Für die Wieder-Inbetriebnahme wurde das Haus Ende der fünfziger Jahre vor
allem im Inneren umgestaltet. Aufzüge, Handläufe, Türen und Beschläge
wurden mit eloxierten Aluminium im typischen Stil der Zeit ausgeführt. Die erwähnte
Verkleidung von Putzflächen mit Fliesen fand etwa 1965 statt; sie war der Versuch,
auf Fassadenrisse zu reagieren, die der relativ "weichen" Stahlkonstruktion
geschuldet waren.
Im Jahre 1976 betritt der Architekt August Engel die Bühne, der seitdem für
sämtliche Baumaßnahmen verantwortlich ist. Engel, der seit 1950 in Kassel
ein Architekturbüro unterhält, hat als Kind bereits den Bau des Hauses
erlebt. Er kennt es durch seine Jahrzehnte lange Beschäftigung damit wie kein
Zweiter. Er sieht sich als Architekt, der die Intentionen Haeslers zurückhaltend
an die Anforderungen der Zeiten anpasst. Ausführungsmängel und Bauschäden
führen ihn zu sorgfältig ausgetüftelten technischen Lösungen,
die in keinem Lehrbuch stehen. Leider bleibt bei der Berücksichtigung der Konstruktion
und Funktion oft die Gestaltung auf der Strecke: Eine überörtliche Fachkritik
wird ihm vorwerfen müssen, der Bedeutung des Baus mit vielen seiner Entscheidungen
nicht gerecht zu werden.
Einen Versuch in diese Richtung gab es 1988/89, als Berthold Burkhardt und Roland
Dorn vom Institut für Tragwerksplanung der TU Braunschweig die schleichenden
Veränderungen am Aschrott-Heim anprangerten. Sie erhielten auf eine Rundbrief-Aktion
hin Rücklauf aus aller Welt; von Luigi Snozzi bis Julius Posener wurde ein denkmalgerechter
Umgang mit dem bedeutenden Bau gefordert. Die Braunschweiger plädierten für
ein ganzheitliches Sanierungskonzept und wurden schließlich vom Landesdenkmalamt
in Marburg mit einem Gutachten beauftragt. 1989 wurden vor diesem Hintergrund die
freistehenden Stahl-Schornsteine am Heizhaus denkmalgerecht erneuert, wohl in Abweichung
von ersten Plänen Engels. Danach ist allerdings die Braunschweiger Initiative
im Sande verlaufen; vor Ort wurde sie sowieso als Aktion von nichts ahnenden Störenfrieden
wahrgenommen. Geschäftsführer Walper weiß "bis heute nicht,
was diese Leute eigentlich wollten".
Wurde das Gebäude bis dahin pragmatisch den jeweiligen Anforderungen angepasst,
so sind die jüngsten Veränderungen, vor allem der Anbau an Flügel
A, der Einführung der Pflegeversicherung geschuldet - die ihrerseits eine Reaktion
auf deutlich veränderte demographische Entwicklung war: Die Menschen werden
immer älter und somit immer länger pflegebedürftig.
Schon 1983 wurde die Satzung der Stiftung dahingehend geändert, dass auch pflegebedürftige
Damen in dem bisher als reinem Wohnheim deklarierten Bau bleiben können; eine
kleine Pflegestation im Erdgeschoss wurde eingerichtet. Seit 1996 ist das Aschrott-Heim
offiziell ein "vollstationäres Pflegeheim". Die Bewohnerinnen erhalten
seitdem erhebliche Zuschüsse aus der Pflegeversicherung - der wohl entscheidenden
Geldquelle, die den Betrieb solcher Heime heute überhaupt wirtschaftlich macht.
Für die Erfordernisse eines Pflegeheims fehlten in der ursprünglichen Disposition
sämtliche Voraussetzungen; die wuchtigen Pflegebetten passten nicht einmal durch
die Türen der ursprünglichen Zimmer. Nebenräume für Personal,
Bäder, Aufenthaltsräume oder Etagenküchen fehlten ganz. Haesler hatte
für je 14 Damen pro Flur nur zwei Toiletten vorgesehen; durch Umwidmung anderer
Räume hatte man diese Zahl auf zuletzt sieben Toiletten pro Flur erhöht.
Spätestens seit Mitte der neunziger Jahre führte kein Weg mehr an einer
"großen Lösung" vorbei. Dazu gab es zwei alternative Modelle,
wie die Leiterin der Kasseler Denkmalpflege, Marlies Finis-Sauer, erläutert:
Verworfen wurde die Lösung, die notwendigen Einrichtungen im bestehenden Baukörper
unterzubringen, weil dies eine Totalentkernung und komplette Neu-Aufteilung der Räume
mit entsprechendem Verlust an Originalsubstanz zur Folge gehabt hätte. Als Kompromiss
wurde dagegen der Anbau an Flügel A genehmigt, der eine Ausstattung sämtlicher
Zimmer mit behindertengerechten Nasszellen genauso ermöglichte wie die Unterbringung
aller erforderlichen Nebenfunktionen in direkter Nähe. Finis-Sauer: "Es
ist ehrlicher, zuzugeben, dass etwas nicht mehr funktioniert, und dies ablesbar zu
machen."
Sie bedauert allerdings, dass weder die Stiftung noch die Zuschussgeber bereit waren,
zur Findung der besten architektonischen Lösung für den Anbau einen offenen
Wettbewerb auszuloben: Die Beauftragung des Hausarchitekten August Engel stand von
vorn herein fest. Auf die Idee, mit einer derart sensiblen Aufgabe solche Architekten
zu beauftragen, die sich überregional mit der denkmalgerechten Sanierung von
Zwanziger-Jahre-Bauten einen Namen gemacht haben, kam man nicht.
Die Denkmalpflegerin setzt nun "alles daran", dass wenigstens der Flügel
B im möglichst ursprünglichen Zustand erhalten bleibt und Verunstaltungen
dort sogar zurückgebaut werden. Immerhin sind hier noch eine Reihe von originalen
Fenstern der Südfassaden erhalten. "Ein Umbau von B wird nicht genehmigt,
das ist Bestandteil des Kompromisses". In "B" sollen diejenigen Alten
wohnen, die noch "etwas fitter" sind; sie sollen später gegebenenfalls
nach Flügel A "umgeschichtet" werden. "Wir haben den Eingriff
genehmigt, weil wir die Wirtschaftlichkeit gewährleisten wollten. Aber die Wirtschaftlichkeit
kann nicht komplett über das Denkmal triumphieren". Geschäftsführer
Walper sagt dagegen: "Es kann nicht Sache der Denkmalpflege sein, dass so ein
Betrieb eingeht". Er hat sich damit zunächst durchgesetzt: "Wir haben
in den letzten Jahren keine Verluste gemacht". Die Verluste an der Bausubstanz
wird man wohl hinnehmen müssen.
Erstveröffentlichung in Bauwelt 18/2000. Der Text
hier folgt meinem Manuskript.
home e-mail/ contact