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Anknüpfen an die Moderne

Die Brünner Architekturszene heute



Bohuslav Fuchs, Städtisches Badehaus, Brünn, Kopecná-Straße, 1927. Foto: Benedikt Hotze, 1995

Wer Brünn nicht kennt, ist selber schuld. Kaum eine Stadt vergleichbarer Größe und Bedeutung hat im Stadtbild so viel qualitätvolle Architektur der zwanziger und dreißiger Jahre zu bieten. Jene goldenen zwanzig Jahre zwischen der Gründung der demokratisch verfaßten tschechoslowakischen Republik im Jahre 1918 und der Okkupation durch Hitler 1938 haben Brünn, diesem Provinzzentrum in Mähren, eine beispiellose architektonische Blüte beschert.

Wer mit dem Namen Brünn allenfalls Mies' Villa Tugendhat verbindet, ist selbst schuld. Brünn (tschechisch: Brno) ist eine phantastische Stadt von 400.000 Einwohnern, die - nicht nur geographisch - näher an Wien als an Prag zu liegen scheint. Bis 1918 waren drei Fünftel der Bevölkerung deutsschsprachig. Brünn hat eine Ringstraße, Brünn hat dichtgepackte Zinshausviertel der Jahrhundertwende im milden k.u.k-Gelb-Beige, und Brünn hat die weiße, graue oder ziegelrote Moderne der Zwischenkriegszeit, die einem in der Stadt auf fast jedem Schritt begegnet. Zu nennen wäre als primus inter pares zumindest der Name Bohuslav Fuchs - ein tschechischer Architekt, der in jenen Jahren weit über 100 Bauten in Brünn und Umgebung errichten konnte. Fast alles davon steht noch. Seine Bauten und die vieler Kollegen stehen architektonisch kaum oder gar nicht hinter dem zurück, was die bekannten Helden der Avantgarde in Berlin, Frankfurt, Celle, Rotterdam oder Vaucresson errichtet haben. Selbst "anonyme" Wohnbauten, die damals ohne namhafte Architekten durch Planungsabteilungen von Baufirmen errichtet wurden, weisen eine bemerkenswerte Gestaltungshöhe auf.

Daß diese historischen Errungenschaften auch im Jahre Zehn nach dem Zerfall des Ostblocks dem westeuropäischen Fachpublikum wenig bekannt sind und in kaum einer internationalen Architekturgeschichte auftreten, ist nicht der Stadt Brünn anzulasten. Und erst recht nicht den jüngeren örtlichen Architekten - gibt es doch unter ihnen wieder eine Reihe, die sich heute ausdrücklich oder unausdrücklich wieder auf diese Traditionen berufen und eine Architektur im Habitus einer gemäßigten Neomoderne pflegen.

Die Einteilung in Gut und Böse funktioniert hier erstaunlicherweise noch nach recht simplem Muster. Die Bösen, das sind die alten Seilschaften aus der staatlichen Monopol-Planungsmaschinerie, die heute gefälligen Postmodernismus bauen und sich der Unterstützung der privatwirtschaftlich gewendeten ehemaligen Kombinatsbürokraten und Lokalpolitiker sicher sein können - Bauerei, die nach Maßstäben der Architekturkritik nicht der Rede wert ist. Die Guten, das sind dagegen hauptsächlich die Architekten der Nach-68er-Generation, die ihr Diplom in den achtziger Jahren gemacht haben und zum guten Teil der örtlichen Architektenvereinigung "Obecni Dum" ("Gemeindehaus") angehören. Diese Vereinigung, die noch unter dem alten Regime und zunächst unter konspirativen Umständen gegründet worden war, kann als Produkt der Bürgerbewegung verstanden werden. Man wandte sich gegen den Verfall der Baukultur im Sozialismus allgemein und gegen einzelne, stadtzerstörerische Planungen in Brünn im besonderen. Man lud internationale Architekten zu Vorträgen ein und übernahm in Eigenregie einen inoffiziellen Teil der Lehre der Brünner Technischen Universität - wenn es sein mußte, sogar illegal in Räumlichkeiten des staatlichen Planungskombinats "Stavoprojekt".

Eine Schlüsselrolle spielte dabei der Architekt Viktor Rudis, heute rund 70 Jahre alt und weiterhin beruflich aktiv. Rudis führte damals innerhalb von "Stavoprojekt" eine Art Elite-Atelier, in dem ansatzweise das möglich war, was es eigentlich nicht geben durfte: gestaltete Architektur statt Planerfüllung per Plattenbau. Hier trafen sich in den achtziger Jahren die ambitioniertesten jungen Architekten der Brünner Szene. Ihr Schlüsselprojekt war das 500 Meter lange Flußschwimmbad "Riviera" in Brünn, das in der ersten Hälfte der achtziger Jahre geplant und ab 1987 schrittweise realisiert wurde. Aus einem Routineauftrag an "Stavoprojekt" machten die jungen Leute vom Rudis-Atelier ein Manifest der "anderen" Architektur. Auch wenn das Ergebnis aus heutiger Sicht sicher nicht als Spitzenarchitektur empfunden werden kann, war dieses Projekt dennoch die Initialzündung für die gegenwärtige Brünner Architektur. Viele der heute tonangebenden jüngeren Architekten waren damals in irgendeiner Form daran beteiligt.

Und, soweit sich dieses Feld heute überhaupt schon umfassend überblicken läßt, gibt es erneut die Kunde von einem "primus inter pares" zu übermitteln: Ales Burian und Gustav Krivinka sind diejenigen Architekten aus der ambitionierten Gruppe, die in den letzten Jahren die interessantesten und größten Bauaufträge in der Stadt Brünn realisieren konnten. Der erste Paukenschlag des Brünner Nachwende-Moderne-Revivals war die Erweiterung des Radiologischen Krankenhauses MOÚ im Ortsteil Stránice an der Tvrdého-Straße (1990-94), dessen Stammgebäude der Lokal-Held Bedrich Rozenahl 1933-35 errichtet hatte. Der Burian-Krivinka-Neubau ist mit seinem Dachgarten und seinen Pilotis auf den ersten Blick kaum von einem frisch renovierten Dreißiger-Jahre-Gebäude zu unterscheiden. Haben Burian und Krivinka hier noch die großen Vorbilder fast eins zu eins nachempfunden, zeigen neuere Bauten der Architekten eine Annäherung an den internationalen Gegenwarts-Trend zur gut gestalteten Einfachheit: Das Hauptquartier der Investitionsbank an der Ceská-Straße (1995), unmittelbar am Rande der Brünner Altstadt, ist aus einem Wettbewerb hervorgegangen und zeigt mit großen, liegenden Fensterformaten, Stahlprofilen und einem kecken Eckaufbau Flagge im Sinne dieser Architektursprache. Leider wurde das Innere nicht nach den Plänen der Architekten ausgebaut. Das Bürogebäude "Geodis" am Brünner Vorort-Bahnhof Zidenice mit seinen beiden V-förmig angeordneten Riegeln auf einem kompliziert geschnittenem Grundstück oder die Schule im Ort Litomysl im Sechziger-Jahre-Stil könnten auch aktuell in der Schweiz oder in Vorarlberg entstanden sein. In ländlichen Gegenden lassen sich Burian und Krivinka auch schon einmal zu rustikaleren Gestaltungsmitteln verleiten: Ihr Feuerwehr- und Postgebäude in Mrákotin ist mit Natursteinsockel und Holzverschalung verziert.

Scheinbar gänzlich auf eine regionalistische Schiene hat es die Architekten Petr Hrusa und Petr Pelcák verschlagen: Ihr Gebäude der Wasserbehörde in der mährischen Stadt Olmütz (Olomouc), im Stadtteil Nové Sady unmittelbar am Lauf des Flusses Morava gelegen, bildet mit seinem langgestreckten Hauptbaukörper gleichzeitig einen Hochwasserschutzdeich. Der Sockel dieses Hauses ist zur Wasserseite hin aus unregelmäßig gebrochenen Natursteinen gemauert; die übrigen Flächen bestehen dagegen aus Ziegeln. Ein eleganter Dachüberstand und ein leicht aus der Fassade hervortretendes Über-Eck-Fenster verleihen dem ansonsten eher trutzig wirkenden Bau eine gewisse Eleganz. Auch ihr Appartementhaus in Städtchen Slavonice besitzt einen wuchtigen, vollwandig gemauerten Natursteinsockel, für den vor Ort aufgefundene Reste der ehemaligen Stadtmauer wiederverwendet wurden.

Zurück nach Brünn, zurück zu neuzeitlichen Materialien: Die Architekten Ludvík Grym und Jindrich Skrabal haben am Brünner Ring (Koliste-Straße 27) einen der bemerkenswertesten Neubauten der letzten Jahre in Brünn geschaffen - als ihren Erstling. Es handelt sich um eine Lückenschließung im Block mit einer zweischaligen, aluminiumverkleideten Fassade, die durch elegante, liegende Fensterformate geprägt wird. Die Architekten nennen es ihr "Big Little Building", und den Auftrag haben sie als Abfallprodukt im Zusammenhang mit der Errichtung einer Fußgängerbrücke bekommen: Ein Investor hatte einige hundert Meter außerhalb des Innenstadtgebiets, abgekoppelt von den alltäglichen Wegeströmen, ein architektonisch nicht weiter bemerkenswertes, aber großes Büro- und Einkaufszentrum errichtet. Dieses sollte über einen öffentlichen Fußweg mit dem Theaterpark in der Innenstadt verbunden werden, wobei er - in Höhe einer Baulücke - über die stark verkehrsbelastete Ringstraße hinweg als Brücke führen sollte. Für den Entwurf der Brücke wollte man einen internationalen Star-Architekten verpflichten und beauftragte den in London lebenden Exil-Tschechen Jan Kaplicky von "Future Systems". Der verlor jedoch irgendwann die Lust, so daß seine Londoner Kollegin Eva Jiricná zum Zuge kam. Grym und Skrabal dienten ihr als örtliche Kontaktarchitekten für die Bauleitung der formal ambitionierten, im Grundriß leicht S-förmigen Stahlbrücke. Den Entwurf des bis dato unausformulierten Gebäudes, das diese Brücke durchqueren sollte, übernahmen sie kurzerhand selbst, weil die Behörden forderten, Brücke und Haus als Einheit zu betrachten und zeitgleich zu errichten. Nun steht es seit September 1998 zeichenhaft direkt neben einem heute angegammelten, aber gleichwohl immer noch eindrucksvollen Wohnungsbau des Architekten Otto Eisler von 1935-36.

Etwas mehr Geduld mit ihren Erstlingen mußten die Architekten Rusin und Wahla aufbringen: Wie der frühe Hans Hollein haben sie sich jahrelang mit Innenausbauten begnügt, in diesem Falle vor allem für Bars wie das "Café Blau" oder "B 51". Beide liegen in der Brünner Altstadt, wobei die "B 51" inzwischen schon wieder geschlossen ist. Ihren ersten Hochbau haben sie kürzlich in Moravské Knínice als ein Einfamilienhaus mit einer großzügigen, raumhohen Fensterfront in der Beletage errichten können.

Geringere Probleme mit der Auftragsakquise scheint das Büro "A Plus" zu haben: Die Partner Jaromír Cerny, Karel Tuza und Petr Uhlír verstehen sich als gewerbliche Architekten, die für ihre Auftraggeber auch die Projektentwicklung anbieten. Der Architekturqualität bereitet das erfreulicherweise keinen Abbruch; das Büro hat kürzlich einen Verwaltungskomplex für die Südmährischen Gaswerke errichtet, das sich in einem Brünner Industrieviertel an der Plynárenská-Straße, in der Nähe des weithin sichtbaren Kraftwerks, befindet. Der achtgeschossige Glaszylinder des Verwaltungsturms ist gut von der Bahnstrecke Brünn-Prag aus sichtbar; er ist in Anlehnung an formale Motive eines Gasometers mit einer technizistischen Fassade ausgestattet, die von einem Netz aus diagonalen Auskreuzungen überzogen ist, das als krönender Kranz ein Geschoß über die Traufkante hinausragt.

Ebenfalls zu einer eher technischen, wenn auch zurückhaltenderen Formensprache hat Altmeister Viktor Rudis, der einstige Mentor der jüngeren Brünner Szene, gefunden. Er betreibt sein Büro heute mit seinem Sohn Martin und mit Zdenka Vydrová. Sein wichtigstes Werk der letzten Jahre ist der "Pavillon G" auf dem Brünner Messegelände, das als Gesamtkunstwerk der zwanziger Jahre gelten kann. Der ursprüngliche Pavillon G war 1928 von Bohumil Cermák als Schlußpunkt einer der beiden Achsen des Geländes errichtet worden und bestand aus zwei Hallen mit Türmchen sowie einem zentralen, 45 Meter hohen verglasten Turm als Point de Vue. Wegen Bauschäden wurde nun dieses Ensemble in Teilen abgerissen und durch zwei große Hallen ersetzt. Der zentrale Turm wurde erhalten, ebenso einer der beiden kleineren; der andere wurde in veränderter Form neu errichtet. So kann diese Verknüpfung von Alt und Neu als Symbol gelesen werden: als Symbol für das ganz selbstverständliche Weiterleben des "Brünner Funktionalismus" in der Brünner Architektur unserer Tage.

Benedikt Hotze


Zuerst veröffentlicht in "Der Architekt" 8/1999
Der Text hier folgt meinem Manuskript.

Copyright 1999 by Benedikt Hotze


Link zum Architekturführer Brünn im BauNetz (20er / 30er Jahre) mit meinen Fotos


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