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Evelyn Hendreich

Via Ostiense - Die alte Stadt und das Meer


Ganz in Weiß steht sie da. Sie ist ziemlich groß, sehr auffällig und von allen Seiten hübsch anzusehen. Gelassen wirkt sie und etwas überheblich, eigentlich sollte sie rauchen. Ein paar Katzen streunen um sie herum. Ihr Alter und ihre Herkunft sind schwierig zu erahnen. Vielleicht aus Ägypten, vielleicht aus Frankreich?

Unsere Protagonistin ist keine gewöhnliche Dame im "besseren Alter", die auf eine Verabredung wartet. Unsere Dame hat einen geometrischen Körper mit quadratischer Grundfläche und geneigten, dreieckigen Seitenflächen, die an einem Punkt zusammenstoßen. Die Pyramide Caio Cestio ist kurz vor der Zeitwende als Grabstätte aus marmorverkleideten Steinblöcken errichtet worden. Sie könnte aber genauso gut ein Relikt der französischen Revolutionsarchitektur sein, der Überrest eines ehemaligen Landschaftsgartens, oder aber Schwemmgut aus dem Nildelta. Jedenfalls ist sie älter als alles andere in der Umgebung. Von ihren 27 Metern Höhe liegen die unteren sechs Meter tiefer als das heutige Straßenniveau. In Rom ist das immer ein Hinweis auf Antikes und Bedeutendes. Im italienischen Dehio, der "Guida d'Italia" vom Touring Club Italiano, wird die Pyramide als "sehr charakteristisches und gut erhaltenes Monument der Antike in Rom" bezeichnet.

Zur Erbauungszeit stand sie außerhalb der Stadt in der römischen Campagna zwischen Wiesen und Weinfeldern. Etwa 300 Jahre später wird sie Teil der heute noch vollständig erhaltenen Stadtbefestigung, den Aurelianischen Mauern. 2000 Jahre später, ab 1870, wächst die neue Hauptstadt des Königreichs Italien erstmals über diese räumliche Begrenzung hinaus. Die Via Ostiense, deren Anfang die Pyramide markiert, entwickelt sich zum Industriestandort von Rom. Nahezu alle Gebäude außerhalb der Mauern, abgesehen von antiken Monumenten, Kirchen, Gräbern und vereinzelten landwirtschaftlichen Höfen, sind entsprechend höchstens 120 Jahre alt.

"Stazione Ostiense" heißt unser Zielbahnhof. Vom internationalen Flughafen Fiumicino haben wir den Zug Richtung "Fara Sabina" genommen und sind hier ausgestiegen. Zum Centro wollen wir mit der Metro weiter fahren. "Si, si, sicher weiß ich, wo der Zugang ist", sagt ein auskunftswilliger Zeitungsverkäufer, "è facile, über diesen Vorplatz, hinter dem LkW dort, da steht ein dreigeschossiger Palazzo, um den Sie herumlaufen müssen, danach noch etwa 100 Meter bis zur nächsten Hausecke, dann die kleine Treppe hinauf, dort ist der Zugang zur U-Bahn". "Grazie mille". Im zeitraubenden Zick-Zack-Kurs, beladen mit Koffern und Taschen, erreichen wir endlich das kleine rote "M"-Schild des Metro-Abgangs. Eigentlich könnte man sich jetzt schon über die "Hauptstadtfähigkeit" unterhalten. Aber: Das Wetter ist wunderbar, wir sind versöhnt, was soll's also.

Trotz unserer Orientierungsschwierigkeiten gehört das Gebiet um die Pyramide und der Beginn der Via Ostiense zu den mit öffentlichen Verkehrsmitteln am besten erschlossenen Bereichen der Stadt. Seit 1840 gibt es die Eisenbahnlinie, seit den fünfziger Jahren die Metro-Verbindung vom Hauptbahnhof Termini nach EUR-Laurentina mit dem Haltepunkt "Piramide". Im Kopfbahnhof "Ostia-Lido" endet die in den zwanziger Jahren errichtete neue Bahnlinie, die zum römischen Badestrand "Roma-Lido" und nach "Ostia Antica" führt. Zeitgleich wird die Post von Adalberto Libera nahe der Pyramide in der Via della Marmorata errichtet, ebenfalls "ganz in Weiß", mit Travertinplatten verkleidet. Eine funktionierende Bahnverbindung zum 1960 eingeweihten internationalen Flughafen Fiumicino wurde endlich 1990 anläßlich der Fußballweltmeisterschaft hergestellt. Der Nationalmannschaft von Italien hat das jedoch nichts genutzt. Wir erinnern uns: im Endspiel gewann Deutschland gegen Argentinien.

Aber manchmal ist auch in Rom schlechtes Wetter, und man ärgert sich über die langen Wege, die mangelhaften Verbindungen und die fehlende Beschilderung. Der Gedanke, daß erst vernetzte Systeme effizient sind, ist in Rom bis heute nicht angekommen. Die Verkehrsinfrastruktur folgt dem "Prinzip Piranesi": Alles steht für sich.

Der Kohlhammer-Rom-Führer von 1954 weiß noch zu berichten, daß der Bahnhof "Stazione Ostiense" nur "bei hohem Staatsbesuch funktioniert". Bezug nimmt die Bemerkung wohl auf den Besuch Hitlers von 1938 bei Mussolini. Vor seiner eigentlichen Fertigstellung wurde der Bahnhof aus diesem Anlaß als "potemkinische Fassade" errichtet.

Für "Ausländer" wurde auch schon Jahre zuvor Neues errichtet. Zwischen Stadtmauer und Pyramide wurde der "Cimitero Acattolico per gli Stranieri al Testaccio", also der "nicht-katholische Friedhof für Ausländer am Testaccio" angelegt. Auf dem unscheinbaren, römischen Friedhof sind in den letzten 250 Jahren über 4000 Menschen begraben worden. Zwischen Pinien und Zypressen fanden jene protestantischen Nordlichter und Freigeister ihre letzte Ruhestätte, die Rom zum Lebensmittelpunkt wählten und hier, oft völlig verarmt, starben.

Die vorhandene Verkehrsinfrastruktur, die stadtnahe Lage und die inzwischen ungenutzten Industriebrachen machen "Via Ostiense" heute, im Projektentwicklerjargon gesprochen, zum "attraktiven Standort mit hohem Entwicklungspotential".

Beim Wort Industriebrachen darf man nicht an die Londoner Docklands oder das Ruhrgebiet mit hektargroßen Konversionsflächen denken. Im Vergleich dazu sind die Bereiche in Rom eher niedlich. Auch "La Capitale", die Hauptstadt des Königreichs, entwickelte sich nach 1870 nicht zur Industriestadt. Die bestehende Agrar- und Dienstleistungsstadt des Vatikans wurde um den umfangreichen Verwaltungsapparat des geeinten Italiens erweitert. Industrien sind allenfalls "im Schlepptau" zur Versorgung der eigenen Bevölkerung angesiedelt worden. Sie hatten nahezu keine Bedeutung über die Grenzen der Stadt hinaus.

Die Gründe für Industrieansiedlung an der Via Ostiense sind schnell benannt. Verfügbare freie Flächen wie hier gab es damals überall in der Stadt. Bonuspunkt neben der vorhandenen Eisenbahnlinie aber war die Nähe zum Fluß. Im "Piano regolatore" wurde das Gebiet beidseitig des Tibers auf einer Länge von ca. 1,5 km als Industriegebiet ausgewiesen. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes und des Tiberhafens sowie die Wieder-Schiffbarmachung des Flusses waren ebenfalls Bestandteil dieses "Flächennutzungsplans".


Seifenfabrik Miralanza

Gegen 1880 wurde gleichzeitig auf beiden Tiberseiten gebaut. Auf der linken Seite wurde der städtische Schlachthof "Mattadoio" im Quartier Testaccio errichtet, auf der rechten Seite das Seifen- und Glycerinwerk "Miralanza" durch einen privaten Unternehmer. Die Verarbeitung der Knochen aus dem Schlachthof zu Leim, Seife und Fett erfolgte in ein- bis zweigeschossigen Fabrikhallen, die in klassischer Industriebauweise aus Ziegelstein errichtet worden waren. Mehrere Siedehallen von fast 100 Metern Länge, Wasserhochbehälter und Schornsteine stehen nebeneinander auf dem seit den sechziger Jahren verlassenen Gelände. Seit Mitte der achziger Jahre steigt das Interesse. Der Besitzer hat dies zum Anlaß genommen, das Gelände mit einem Zaun abzuriegeln und bewachen zu lassen. Ein offizieller Zugang ist nur schwer möglich. Dabei ist die Nachfrage groß: Heerscharen von Architekturstudenten wollen den Ort "Ex-Miralanza" für ihren "Ricerca" studieren, um das "Intervento", das Projekt, zu entwickeln.

Ernsthafter Bewerber für eine dauerhafte zukünftige Nutzung des Gebiets ist "Roma Terza", die dritte römische Universität. Ein Teil der Zentralverwaltung befindet sich bereits in der Nähe. Der Rest von "Roma Terza" ist "staccato", wie man sagt, zerhackt und in alle Richtungen in der Stadt verteilt. Der Besitzer des Geländes weigert sich jedoch, es zu verkaufen. Nichts geht voran: "Roma Terza in attesa", in Erwartung.

Eine Spur von Umnutzung gibt es aber doch: Mario Martone, der neue Direktor des Teatro di Roma, hat die plüschige, altehrwürdige Institution revolutioniert und in den alten Seifenhallen die Sommerspielstätte "Teatro India" eingerichtet. Dort, wo bis 1957 Seifensieder am Werk waren, wird jetzt der Sommernachtstraum von Shakespeare inszeniert. Allabendlich pilgern Besucher in Pelzstolas und Fräcken zu den Aufführungen und genießen die überraschend "antike, römische" Atmosphäre in den von Fackeln erhelllten Gebäuden. Zwischen Schilf des Tiberufers, Stahlgerippen von Gasometern und den zehnstöckigen Wohnhäuser der Via Marconi werden in den Pausen Häppchen und Sekt gereicht. Die Kulturbeflissenen verlassen für das gesellschaftlichen Theater-Event das herausgeputzte Centro storico durch das Stadttor Porta S. Paolo, um ante portas in das Quartier Ostiense zu gelangen. An der Pyramide vorbei fahren sie durch Straßen, die "Via del Gasometro", "Via dei Maggazini Generali", "Piazzale della Radio" oder "Ponte dell' Industria" heißen, um den "Ödipus" von Sophokles oder ein Tanzstück von Pina Bausch zu sehen. Unweit rocken deren Kinder zu Live-Musik unter den Dächern der alten Schlachthäuser im Quartier Testaccio. Die Peripherie ist ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt.


Umnutzungspläne allerorts

Dreißig Jahre hat sich hier nichts getan, jetzt bewegt sich was. Kräne und Bagger rücken in das Gebiet. Neben der "Ponte d'Industria" steht ein eingepacktes Gebäude. Unter dessen Planen wird nach der Fertigstellung der Arbeiten die umgebaute Ex-Mühle "Mulino biondo" vom Ende des 19. Jahrhunderts auftauchen. Die Statik das Gebäudes sorgte jedoch nach Baubeginn für böses Erwachen. Zur Zeit sucht man Wege zur kostengünstigen Ertüchtigung der Konstruktion, damit die geplante Büronutzung am Tiberufer möglich wird. Solange steht die Baustelle still.

In der Via Enrico Fermi steht das Lagerhaus für Agrarprodukte und -maschinen des ehemaligen "Consorzio Agrario Provincale" seit Mitte der sechziger Jahre leer. Seit kurzem ist es mit einem Bauzaun gesichert; ein Gerüst kündigt Umbauarbeiten an. Auch erste Baumaschinen stehen schon da, das Bauschild mit Hinweis auf den planenden Architekten und die zukünftige Nutzung feht allerdings noch. Das in den dreißiger Jahren errichtete rationalistische Gebäude zeigt auf der Rückseite noch deutlich die Insignien seiner Entstehungszeit: die "Fasci" (Liktorenbündel) im oberen Giebel wurden nie entfernt. Die beeindruckende "Gebäude-Maschine" mit durchlaufenden Fensterbändern und verglasten Treppenhäusern verleugnet ihre Masse an keiner Stelle. Nur über die Straßenfassade ragen einzelne, leichte Stahlbögen, die in Lampenköpfen enden. Sie zeigen auf Reste der Porzellanschrift, die an den Befestigungsstiften erhalten geblieben ist.


"Mattatoio", der Schlachthof im Quartier Testaccio

Tagsüber findet man problemlos einen Parkplatz am alten Schlachthof. Nachts ist das anders: Karawanen von Jugendlichen suchen für ihre "Puntos" und "Pandas" zwischen Platanen, Gehwegen und Abfalltonnen noch die letzten freien Quadratmeter für die eigenen vier Räder mit Liegesitz. Hier ist "Festà del' Unità", Eintritt frei, also nichts wie rein ins nächtliche Vergnügen. In den langen, offenen Hallen sind in den ehemaligen Viehboxen Stände aufgebaut: Räucherkerzen, Bücher und Krimskrams werden unter den alten Transportschienen, die noch an der Decke montiert sind, zum Verkauf angeboten. Speisen und Getränke gibt es in den offenen Stallungen außerhalb der Hallen. Ein kalter, blauer Lichtschein beleuchtet einen schmalen Gang. Etwa 20 Meter durchläuft man die "blaue Röhre" und landet in einer nur von Kerzenlicht erleuchteten Spelunke. Auf der Bühne spielt im Spot-Light eine Band. Die Mädels hinterm Tresen zeigen gepiercte Bauchnabel und jubeln den Jungs auf der Bühne zu. Man hängt rum und trinkt Bier aus Flaschen. Alles sieht echt aus, wirkt aber trotzdem sehr smart, fast ein wenig modisch. Es ist wie zur Zeit der Hausbesetzer in Berlin, nur ohne Hausbesetzung. Man ahnt, daß sich die Ragazze kurz vor ein Uhr von ihrem Freund ganz brav nach Hause fahren lassen.

Der ältere Teil des Schlachthofs ist 1880 erbaut worden, um 1930 wurden die Kühlhäuser ergänzt. Er besteht aus zwei großen Höfen, die jeweils mit eingeschossiger Bebauung und höheren Portalbauten bzw. Mauern umschlossen sind. Im ersten Hof stehen sechs längsorientierte, geschlossene Schlachthallen auf einer Fläche von ca 100 x 250 Metern. Der zweite, kleinere Hof von etwa 100 x 100 Metern diente der gleichen Nutzung, allerdings im Freien unter leichten Dächern. Seit den sechziger Jahren war der Schlachthof dem Verfall preisgegeben, bis hier Mitte der achtziger Jahre im Gefolge der Schwulen- und Alternativbewegung die ersten Clubs und Treffs eröffneten, Centri soziali für die Alten eingerichtet und erste Work-Camps des SCI (Service Civile International) durchgeführt wurden. Damals wurden WC-Anlagen eingebaut, um das verlassene Schlachthofgelände zum Veranstaltungsort umnutzen zu können. Ganz verdrängen konnte man trotzdem nicht, was sich in der Zwischenzeit dort angesiedelt hatte und auch das Pittoreske ausmacht: Im hinteren Teil der Anlage haben sich die Pferdekutscher eingerichtet, die tagsüber Touristen durchs Centro storico fahren. Ihre Pferde stehen nachts unter den alten Schlachtdächern, die Kutscher selbst wohnen mit ihren Familien in der Randbebauung oder in mitgebrachten Wohnwagen.

Die Droschkenkutscher, die Bars, Clubs und Restaurants befinden sich auf historischem Gelände. Mittelpunkt und Namensgeber für das Quartier ist der "Monte Testaccio", eine antike "Erhebung", die es an Gewichtigkeit und Bedeutung durchaus mit unserer alten Dame der Pyramide Caio Cestio aufnehmen kann. In der Nähe des Tiberhafens gelegen, wurde hier von etwa 200 v.Chr. bis 200 n.Chr. mit der "Errichtung" begonnen. Streng nach den Kriterien des Dualen Systems zur Wertstofftrennung wurden hier ausschließlich Scherben zerborstener Keramikkrüge aufgeschüttet, bis dieser Hügel auf die beachtliche Höhe von 35 Metern und einem Umfang von ca. 850 Metern kam. Dazu muß man wissen, das sämtliche Lebensmittel, die man zur Versorgung der Millionenstadt benötigte, in schmalen, spitz zulaufenden, grob gearbeiteten Tonkrügen transportiert wurden. Was unterwegs zerbrach, wurde hier abgeladen. "Jeder Krug geht zum Brunnen bis er bricht", sagt man. Auch wenn wir davon ausgehen, daß nicht alle Krüge hier zerbrochen sind, gibt der "Monte Testaccio" (Scherbenberg) doch Zeugnis vom enormen Umfang der damaligen Handelsgeschäfte.

Schon auf dem Nolli-Plan von 1748 ist die heute noch erhaltene, zweigeschossige Ringbebauung am Fuß des Hügels zu sehen. In den aus Millionen Amphorenscherben aufgeschütteten Trümmerberg waren lange Stollen getrieben worden, über denen anschließend ein- zweigeschossige Häuser errichtet wurden. Erst als Ställe und Werkstätten von Sattlern und Schmieden benutzt, dienten sie später zur Weinaufbewahrung. Das ambrosische Getränk hielt sich hier herrlich frisch. Die umlaufende Bebauung hat die Zeit komplett überdauert. Während sich im nördlichen Teil die Clubs und Restaurants ausbreiten, finden sich im südlichen Teil nach wie vor Werkstätten und Wohnungen von einfachen Leuten. Hier hat sich eine Bevölkerungsgruppe die Lebensumstände vom Ende des 19. Jahrhunderts erhalten. Die Melancholie, die Maler wie Poussin anzogen, ist hier noch zu spüren.



Obst und Gemüse, Strom und Gas an der Via Ostiense

Noch wird von Montag bis Samstag in den frühen Morgenstunden Obst und Gemüse in den Hallen der "Mercati generali" an der Via Ostiense verkauft. Diesem Gebiet steht aber eine große Umstrukturierung bevor. Der Großmarkt wird in absehbarer Zeit in Richtung Osten nach Tivoli ziehen. Das hohe Verkehrsaufkommen, Lärm, Geruch und Imissionen machen das Verbleiben im inzwischen dicht besiedelten Wohngebiet unmöglich.

Schräg gegenüber stehen drei große Gasometer. Durch die Umstellung auf Erdgas wurden die in den zwanziger und dreißiger Jahren errichteten Stahlgerippe-Konstruktionen Anfang der siebziger Jahre überflüssig. Jetzt werden sie herausgeputzt und frisch lackiert, um als Superzeichen die zukünftige Entwicklung des alten Industrieareals einzuleiten. Wie in den Seifensiederhallen rückt hier die Kultur als Nachnutzer in die leeren Räume.

In der Via Ostiense Nr. 106 hängt über der Zufahrt ein Transparent mit der Aufschrift: "Musei Capitolini, Centrale Montemartini". Pünklich um 10 Uhr morgens öffnen die Damen und Herren Museumswärter die Tore zu den 1997 eingeweihten Ausstellungsräumen. Die Gebäude wurden 1912 vom Architekten Montemartini als erstes römisches E-Werk errichtet. Teile der Anlage standen bereits seit 1950 leer, seit 1963 ist sie komplett außer Betrieb. Ermöglicht wurde die Umnutzung wegen der Restaurierungsarbeiten am Kapitol. Um die dortige Sammlung nicht jahrelang einlagern zu müssen, entschloß man sich, die "Maschinensäle" aus dem frühen 20. Jahrhundert für 400 antike Skulpturen herzurichten.


EUR: Die Stadt wächst ans Meer

"Um die schönen Frauen aus dem Norden für sich gewinnen zu können, mußte man sich schon was einfallen lassen", erläutert ein damaliger "Latin Lover" die Zeit seiner Jugend Mitte der fünfziger Jahre in Rom. Auf der "Piazza Navona" oder bei "Fontana di Trevi" trafen sich die römischen Jungs mit ihren Vespas, um nach Touristinnen Ausschau zu halten. "Wenn wir zur Gitarre gesungen haben, blieben schnell ein paar Mädels stehen" erklärt er weiter. Damit war der erste Hürde genommen: Sie hatten angebissen. Im Verlauf des Abends wurde dann ein "Giro in Vespa", eine Spazierfahrt mit der Vespa ins unbekannte Rom, organisiert: nach EUR. Das Gebiet der "Esposizione Universale di Roma" kannte damals tatsächlich niemand, der als Tourist nach Rom kam. Entsprechend überrascht waren die Nordeuropäerinnen, wenn sie sich nach der Motorrollerfahrt über die Via Cristoforo Colombo oder die Via Ostiense plötzlich zwischen monumentalen, weißen Gebäuden wiederfanden. Am "Colosseo Quadrato" wurde angehalten. So wird der "Palazzo della civiltà del lavoro" im Volksmund wegen seiner Ähnlichkeit zum Kolosseum genannt. Beeindruckt ließen sich die jungen Damen über die große Freitreppe unter die fünf Meter hohen Figurengruppen aus Mann und Roß begleiten. Von hier riskierten sie einen Blick in die Tiefe. "Ließen sie den haltenden Arm auf der Schulter liegen, war die Sache geritzt. Eine Decke hatte man immer dabei, und Wiesen gab es hier genug".

Zur Erbauungszeit hieß das von den römischen Ragazzi in der Nachkriegszeit als Testwiese bevorzugte Quartier noch "E 42", was Espositione 42 bedeutet. Der Name "EUR" hat sich erst Anfang der fünfziger Jahre etabliert. Anläßlich der Weltausstellung von 1942 in Rom sollte unter der Leitung von Piacentini, Pagano, Piccinato, Rossi und Vietti ein neuer Stadtteil entstehen. Das ca. 420 Hektar große Gelände, auf halber Strecke zwischen der "Hauptstadt des Imperiums" und dem "Mare Tirreno", wurde ab 1935 erschlossen. Die Lage des Geländes erfüllte den Wunsch der Machthaber, die städtebauliche Entwicklung in Richtung Ostia voranzutreiben. Nach deren Auffassung mußte die Hauptstadt eines Imperiums am Meer liegen. "E 42" sollte das "neue, monumentale Quartier" auf der geplanten "Ausstellungs-Achse" vom Centro storico bis ans Mittelmeer werden und der Kern zukünftiger Siedlungsentwicklung sein.

Auf streng rechtwinkligem, modernem Straßengrundriß begann man, monumentale, travertinverkleidete Gebäude für die öffentliche Verwaltung, für Kunst, Kultur und Geschichte zu errichten. Das Rückgrat des Quartiers bildet die Via Cristoforo Colombo, die schnurgerade über die gewellte Topographie des Ausstellungsgeländes führt.

Die Bautätigkeit wurde durch den 2. Weltkrieg unterbrochen. Gemessen an dem Volumen, das für die nicht stattgefundene Weltausstellung von 1942 geplant war, ist bis Kriegsbeginn relativ wenig realisiert worden. Für die Metro-Linie, die das Ausstellungsgelände mit Stazione Termini verbinden sollte, waren die Tiefbaumaßnahmen abgeschlossen. Auch war das Straßenraster in "E 42" abgesteckt, und realisiert war die Bebauung der beiden großen Plätze, die heute "Piazzale delle Nazioni Unite" und "Piazza Marconi" heißen. Die erste Querachse, Viale della Civiltà del Lavoro, war durch die beiden Bauten "Palazzo dei Congressi", der Kongreßpalast von A. Libera, und "Palazzo della Civiltà del' Lavoro", der Palast der Zivilsation der Arbeit - eben jenes erwähnte "Quadratische Kolosseum" - von G. Guerrini, B. La Padula und M. Romano definiert.

Ein Luftfoto aus der unmittelbaren Nachkriegszeit macht deutlich, daß die weiterhin realisierten Bauten wie der "Palast des Museums der italienischen Kulturschöpfung" von Aschieri, Bernardino, Pascoletti und Peressutti; das Postgebäude von BBPR; die Kirche St. Peter und Paul von Foschini und das heutige Staatsarchiv von Figini, Pollini und De Renzi, als Solitäre auf der grünen Wiese standen. Das Straßenraster ist allerdings erkennbar.

Das mit Abstand interessanteste Gebäude der ersten Bauphase in EUR ist der Kongreßpalast. Adalberto Libera ist es gelungen, in der Außengestaltung den Anforderungen des Städtebaus gerecht zu werden und dennoch ein modernes Gebäude unter Verwendung zeitgemäßer Technik zu errichten. Das Äußere wird beherrscht von einem monumentalen Baukörper, weißem Travertin und einer Säulenvorhalle. Dahinter verbirgt sich jedoch eine zweite, leichte Fassade aus Stahl-Pendelstützen mit Glasfüllungen. Der kubische Hauptbaukörper ist mit einer leichten gewölbten Betonschale abgedeckt, die nur an den vier Außenecken aufliegt.

Auf der Grundlage der städtebaulichen Vorgaben aus der Vorkriegszeit wird ab den fünfziger Jahren in einer zweiten Bauphase das "Ausstellungsgelände" (das "in der Nachkriegszeit verödete Stadtviertel" - Zitat aus dem Kohlhammer-Rom-Führer von 1954) zum Verwaltungs- und Wohnviertel ausgebaut. Von den Hochbauplanungen für "E42" hatte man sich verabschiedet, allerdings wurden die Gebäude aus der ersten Bauphase restauriert, da sie durch Kriegseinwirkungen stark beschädigt waren. Auf den Freiflächen werden öffentliche und private Verwaltungsbauten gebaut, u.a. der "Palazzo dei uffici", 1963 von L. Moretti, und die "Hauptverwaltung der Democrazia Cristiana", 1955 - 58 von S. Muratori. Die Metro-Linie wird fertiggestellt, und der schon für "E 42" geplante künstliche See angelegt. Er sorgt in den heißen römischen Sommertagen für Verdunstungskälte.

Im Umkreis werden Wohnbauten errichtet. Anläßlich der olympischen Spiele von 1960 werden in einer "dritten" Bauphase der "Palazzo dello Sport", 1956 - 60 von P. L. Nervi mit M. Piacentini, und das "Velodromo Olimpico", 1958 - 60 von C. Ligini, D. Ortensi und S. Ricci erbaut. Der Sportpalast von Nervi steht an erhabener Stelle genau in der Achse der Via C. Colombo dort wo ursprünglich für "E42" ein großer Bogen nach Entwürfen von A. Libera geplant war.

Bis heute wird am EUR festgehalten und weitergebaut: Auf dem letzten freien Grundstück an der Via C. Colombo läuft zur Zeit ein zweiphasiger Realisierungswettbewerbe für ein Kongreßzentrum. Der Abgabetermin der ersten, offene Phase war Ende Oktober 1998. Sieben Büros konnten sich für die Teilnahme an der zweiten Phase qualifizieren: P. Busmann / G. Haberer; S. d'Ascia / AREP; M. Fuksas; O. Arup / R. Rogers; E. Pitzalis; F. Purini; P. Spadolini. Die Ergebnisse werden für das Heilige Jahr 2000 erwartet.

Am Ende des 20 Jahrhunderts ist "EUR" ein funktionierendes Stadtviertel. Wegen der lockeren, aber unbedingt urbanen Bebauung, der vielen Grünanlagen und der guten Luft ist das Quartier inzwischen sehr beliebt. Viele Verwaltungsangestellte sind hierher in die Nähe ihrer Arbeitsplätze gezogen. Auch für die Freizeitgestaltung ist gesorgt: an einem Sonntag nachmittag im August herrscht entspannte Atmosphäre: die "Daheimgebliebenen" verbringen gelassen ein paar Stunden auf einem Klappstuhl an den Ufern des "Lago", erfrischen sich später mit einem Eis bei "Giolitti" oder leihen sich im "Chalet del Lago" ein Ruderboot aus. Junge Mütter beaufsichtigen in den Umgängen des "Colosseo Quadrato" ihre Kinder bei den ersten Versuchen auf den Inline-Skates; die Halbwüchsigen fahren derweil unter römischer Septembersonne "Sommerski auf grünem Schnee" auf den Rasenhängen der seitlichen Zufahrt.

Der "Kernbereich" von "EUR" ist um diese Zeit jedoch menschenleer. Die "Birreria del West" an der "Viale della Civiltà del Lavoro", sonst der Treffpunkt von Verwaltungsangestellten zum Mittagessen, ist verwaist. Im "Caffè Palombini" an der "Piazzale K. Adenauer", wo sich schon Julius Posener nach einer Führung durch "EUR" erfrischt hat, sind nur ein paar ältere Damen beim Tee anzutreffen. Keine parkenden Autos verstellen den Blick durch die breiten Straßenachsen. Bei gleißendem Sonnenlicht hat man den faszinierenden Eindruck, durch ein Städtebaumodell im Maßstab 1:1 zu laufen: Unter blauem Himmel sieht man nur weiße Fassaden. So muß das einst gemeint gewesen sein mit der Ausstellung "E 42".


Zwischen EUR und Ostia-Lido

Die Wiesen, auf denen unser Latin Lover in den fünfziger Jahren noch seine Decke ausgebreitet hat, sind jetzt dicht bebaut. Zwischen EUR und Ostia Lido wurden in den sechziger und siebziger Jahren neue Stadtteile errichtet. Erwähnenswert ist das 1960 - 66 erbaute "Quartiere INCIS a Decima". Nach den Plänen von V. Cafiero, I. Guidi, A. Libera und L. Moretti (von Letztgenanntem ist auch der städtebauliche Entwurf) wurde ein Kilometer südwestlich von EUR, an der Via C. Sabatini, auf einer Fläche von 22 Hektar ein Viertel für 7500 Einwohner errichtet. Aufgeständerte, viergeschossige, geschwungene Gebäude mit Ziegelverblendung ordnen sich um Zufahrtsstraßen und Höfe. Zur Hofseite sind durchlaufende Balkonbänder angeordnet. In der Gestaltung erinnert es an das zuvor von annähernd der selben Architektengruppe entworfene "Villaggio Olimpico" für die Spiele des Jahres 1960.

Das Quartier INCIS in Decima wird zur Zeit von einer römischen Architektengruppe um A. Aymonimo im Rahmen des Programms "Cento Piazze" (100 Plätze) landschaftsarchitektonisch bearbeitet. Was in mehrseitigen Artikeln in der Fachpresse stolz gezeigt wird, entpuppt sich bei der Ortsbegehung als mikroskopische Maßnahme: Ein, zwei neue Wände aus poliertem Naturwerkstein, Pflasterungen und Baumeinfassungen aus Stahlbändern sind zu sehen; nur einige wenige, exemplarische Teile der Siedlung sind bislang umgestaltet. Schlaglichtartig läßt sich hier die fatale Situation der italienischen Architektenschaft erläutern: Es wird kaum etwas realisiert.


Der Traum: Roma-Lido, die Stadt bis zum Meer

Wer in Decima wohnt, spürt schon fast den salzigen Wind vom Meer. Von hier aus sind es nur noch 18 Kilometer bis nach Ostia-Lido, dem römischen Strandbad. Zwischen Pinien und Oleanderbüschen fährt man auf der "Via Ostiense" direkt bis ans Wasser. Auf diesem Weg fuhr man schon in den dreißiger Jahren mit Kind und Kegel am Wochenende zum Baden. Die vier Kilometer weiter südlich parallel verlaufende Via C. Colombo wurde erst in der Nachkriegszeit bis Ostia verlängert.

Voraussetzung für die Bebauung war die Trockenlegung der Sumpfgebiete und die Bekämpfung der Malaria. Die "Società Immobiliare Tirrena" errichtete hier in Ostia-Lido ab 1932 einzeln stehende Villen. Diese Zweitwohnungen wurden von römischen Familien erworben und hauptsächlich in den Sommermonaten benutzt.

Adalberto Libera hat für Ostia drei verschiedene Haustypen entworfen. In der Viale della Vittoria 34 und 43 steht zweifach der sogenannte Typ C, ein Sechsgeschosser mit Flugdach. Die beiden dreigeschossigen Villen der Typen A und B stehen unmittelbar am Lungomare mit freiem Blick auf Wasser und Himmel.



Von den großen, runden Balkon der Villa "Typ A" haben die Bewohner einen exquisiten Blick aufs sommerliche Strandleben. Dicht an dicht liegen hier die Handtücher. Den Weg zum Wasser findet man nur über "fremde Laken". Aber wer hier liegt, will sowieso nicht baden, sondern nur sehen und gesehen werden. Wegen der besseren Wasserqualität empfiehlt es sich, weiter südlich bei den "Cancelli", den Toren, einem Platz im kilometerlangen und wunderbar breiten Dünenstrand zu suchen.

Libera selbst hat in Ostia-Lido nur diese vier Gebäude bauen können, die Formensprache vor Ort hat er jedoch stark beeinflußt. An den drei- bis viergeschossigen Haustypen in der Nachbarschaft tauchen seine runden, ausladenden Eckbalkone in Form von "Micky Mouse Ohren" wieder auf.
1934 kam der Neubau des "Ufficio postale" von A. Mazzoni dazu. Der Ort war komplett: Rom hatte sein modernes Strandbad.

In den fünfziger Jahren wurden Hotels und Kurhäuser ergänzt. Ostia-Lido ist jedoch kein mondäner Badeort, hier vergnügen sich eher die einfachen Leute und die Mittelschicht. Zusammen mit dem weiter südlich liegenden Sabaudia gehört Ostia-Lido zu den neugegründeten Badeorten der dreißiger Jahre, die ihren modernen Charakter bis heute bewahrt haben.

Die Via Ostiense endet hier in einer großen Piazza mit Palmen und Cafés. Wer weiter will, kann das nur noch zu Fuß machen: über einen langen Steg bis zur Plattform, die schon von Wellen umspült wird. Rom ist am Meer angekommen.



Evelyn Hendreich, geb. 1963, Studium der Architektur in Kassel und Rom, studierte und arbeitete von 1989 - 93 in Rom. Freie Architektin in Berlin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Cottbus am Lehrstuhl für Entwerfen und Verkehrsbauten.

Erstveröffentlichung in Bauwelt 48/1999 (StadtBauwelt 144). Der Text hier folgt dem Manuskript.

Fotos: Benedikt Hotze


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